DIE REICHSGRÜNDER oder DAS SCHMÜRZ

Andre Sokolowski am 28. April 2018 im online-Magazin KULTURA-EXTRA.

Der kalte Patriarch stößt Frau und Tochter von sich

Marcus Hladek am 14.09.2017 in der Frankfurter Neuen Presse.

"Eine Familie ist ständig auf der Flucht vor einem unheimlichen Geräusch. Sie zieht von Stockwerk zu Stockwerk und landet schließlich in einer elenden Dachkammer. Immer mit dabei ist auch das Schmürz, ein von Kopf bis Fuß bandagiertes, von allen getretenes und geschlagenes menschenähnliches Wesen. Die Familie verliert nach und nach ihren ganzen Besitz und löst sich auf. Das Dienstmädchen läuft weg, Mutter und Tochter verschwinden, der Vater stürzt sich aus dem Dachfenster. 

Am Ende bricht das Schmürz, die geschundene Kreatur, lautlos zusammen." 

(Quelle: hsverlag.com) 

Das [s.o.] ist der ungefähre Plot von Die Reichsgründer oder das Schmürz des französischen Autors Boris Vian (1920-1959), und er scheint autobiografischen Ursprungs, irgendwie, zu sein: 

Das nicht mal 40 Jahre alt gewordene und im Pariser Villenvorort Ville-d'Avray als Sohn eines wohlhabenden Bronzefabrikanten und Goldhändlers geborene Multitalent - und als das väterliche Geschäft plötzlich pleite ging, waren Vian's gezwungen, ihre Villa (wo, ganz nebenbei bemerkt, die Eltern des späteren Geigenstars Yehudi Menuhin eingezogen waren) zu vermieten und in das benachbarte Gärtnerhaus des Anwesens umzuziehen - probierte in seinem kurzen künstlerischen Leben sowohl das Jazztrompeten, das Chansonsingen, das Theaterschauspielern, das Texteübersetzen als auch das Verfassen von Gedichten, Romanen und Stücken. Seine dem Absurden Theater nicht unverwandschaftlichen Werke muss man heutzutage hie und da er-suchen; in unserer mit realpolitischen Absurditäten (Trump und Kim ud Co.) durchwalkten Welt ist das dann auch kein Wunder - die Realsatire, um es freundlicher als freundlich ausdrücken, lebt und braucht daher, nicht unbedingt, das künstlerische Abziehbild.

Was aber war es dann, was das in Frankfurt ansässige Ensemble AIMÉE ROSE dazu veranlasste, sein nicht nur personell (7 SchauspielerInnen in einem Off- Theater müssen erst einmal gefunden [und bezahlt!] sein; a la boneur) sehr anspruchsvolles Unterfangen zu stemmen?

Um es ehrlich zu sagen: Ich hatte "es", dieses Motiv, nach den weit über zwei Stunden Aufführungsdauer, also ganz für mich persönlich, nicht herausgefunden. Trotzdem konnte ich mich dem indeenreichen Faszinosum, das die Regisseurin Anne Hasselberg und ihre Ausstatter Jana Radomski, Thomas Krauthahn sowie Ronald Sandvoss (Projektion) ihrem Wunschprojekt so angedeihen ließen, nicht entziehen. Es sollte dem Vernehmen nach dann auch "ein Statement gegen das weltweite Erwachen eines neuen Führertums von Populismus & gnadenloser Intoleranz", wie sie es annotierten, sein.

Zwei nebenläufige Ebenen gab es: das Stück an sich sowie "Begleitzitate" aus Gedichten und/oder Schriften von Boris Vian.

Nicht immer funktionierte dieser ambitionierte Gleichschritt - und als durchaus platt, um nicht zu sagen plakativ, empfand sich beispielsweise dieser etikettaffine Nachbarsauftritt (Boris Alexander), der sich die selbstklebenden AfD- und/oder NPD-Logos auf seinen T-Shirt packte und Xavier, den Einwanderer/Flüchtling/Immigranten (Alexandre Rudel), auf dem Sklavenmarkt meistbietend wegverhökert oder bloß mit seinem braunen Ledergürtel gerbt; das war wohl etwas winkmitzaunspfahlmäßig trotz der gut gemeinten Botschaft, die dahinter stecken sollte.

Kapiert hatte ich grade mal (also vom "reinen" Stück her), dass der Vater (Samir Djikic) ein Verhältnis mit Cruche (Birgit Thysder), seiner Ex-Haushälterin, gehabt haben musste und noch immer hat, und dass wahrscheinlich Zénobie (Anna-Lena Kolata) aus dem Cruche-Leib schlüpfte und sodurch Zénobie's Mutter (Julia Corlija) eine vermeintliche letztendlich war, oder doch wieder anders? Keine Ahnung, ob ich's richtig schnallte.

Jedenfalls, zum Schluss lagen sich dann der leidgeprüfte Vater - vom Erscheinungsbild her eher Sohn- als Vatertyp - und dieses ominöse Schmürz (beeindruckend verkörpert durch den goldbestäubten, helläugigen Eric Lenke!) zärtlich und voll Liebessehnsucht in den Armen: anrührendste und auch schönste Szene dieses Abends!! 

Doch, ein sehr bemerkenswertes Gastspiel im ACUDtheater in der Veteranenstraße von Berlin.

 
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